Nachrichtenbeitrag
Anhaltende Sehnsucht nach positivem Denken
Der Literaturwissenschaftler Jean-Michel Wissmer hat die Wirkung des Schweizer „Mythos Heidi“ untersucht. Er stellt die Geschichte in ihren historischen Kontext und setzt sie in Bezug zu den heutigen Leserinnen und Lesern.
Heidi, das Kind der Berge ist ein Exportschlager der Schweiz. Aber was macht seine Wirkung aus? Der Literaturwissenschaftler Jean-Michel Wissmer ist dem „Mythos Heidi“ in einem Buch auf den Grund gegangen. NNA-Korrespondentin Edith Willer-Kurtz hat es gelesen.
BASEL (NNA) – Menschen verschiedener Epochen, Generationen und Ländern haben Heidi kennengelernt, 1880 wurde das Buch zum ersten Mal publiziert. Seither sind unzählige Variationen, Übersetzungen in über 50 Sprachen bisher erschienen und in Adaptionen Filme und Comicfassungen entstanden.
Heidi ist offenbar eine „unerschöpfliche Inspirationsquelle“, schreibt der Literaturwissenschaftler Jean-Michel Wissmer. Der Essayist, Schriftsteller und Dramaturg untersucht den „Mythos Heidi“ nach unterschiedlichen Kriterien, zeigt Vergleiche und beschreibt seine Auslegungen. Das Musical z B. erwähnt er, das zwischen 2005 und 2007 vor der grandiosen Kulisse des Walensees, 20min von Bad Ragaz entfernt aufgeführt wurde, gleichzeitig eine Art Werbebotschaft für die Schweiz.
Weniger bekannt ist die Schweizer Autorin des Romans Heidi: Johanna Spyri (1827-1901). Sie schrieb die beiden Kinderbücher „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ und viele weitere Geschichten und Bücher für Erwachsene, junge Mädchen und Kinder in den Jahren von 1871bis 1901. Sie führte in Zürich ein bürgerliches Leben und pflegte mit Persönlichkeiten wie Conrad Ferdinand Meyer und Richard Wagner Umgang.
Im Buch wird sie als tief religiöse Frau beschrieben und als eine Frau, die mit Depressionen zu kämpfen hatte. Wissmer geht auf viele Details ein, vergleicht, schildert Adaptionen ihrer Literatur in weiteren Erzählungen. Er verweist auch auf Spyris biographischen Einflüsse im Roman von Heidi.
Zusammenhänge
Wissmer geht den Inhalt des Romans schrittweise durch, beschreibt die Zusammenhänge der Handlungen, Heidis Entwicklung und die Charaktere der Figuren, wie Alp-Öhi, der Ziegen-Peter, Familie Sesemann mit dem Töchterchen Klara und das spröde Fräulein Rettenmeier als Hauptfiguren. Da heißt es dann auch, Großmütter sind Symbolgestalten in Spyris Romanen, als Hüter der Tradition und Quelle der Weißheit.
Spyri, die zwei grundverschiedene Welten oder Charaktere gegenüber stellt, zeigt dem Leser den Stadtmenschen, der in die Berge kommt, aber nicht nur das: Sie gilt nicht nur als „engelhafte Erzählerin“, denn sie gestatte dem Leser immer wieder einen schonungslosen Blick ins Unbewusste ihrer kindlichen Charaktere.
Die damaligen Zeiterscheinungen gehören auch zu den Kapiteln. So wird berichtet, dass zur Zeit der Veröffentlichung der Heidibücher, um 1880, der Tourismus in der Schweiz nicht nur anlässlich der Schönheit der Landschaft stattfindet, sondern auch wegen der Reinlichkeit und der Möglichkeit, die Thermalbäder in der Schweiz aufzusuchen.
Für die weniger begüterten Touristen galt schon die Alpenluft heilbringend, zu der Höhenluft kamen noch die Vorzüge der Heilkräuter und Mineralien, die in der Bergwelt vorkommen. Hier wird Jean Chaques Rousseau zitiert, der die Bergwelt als wohltuenden, heilsamen Ort beschreibt. Später ist im Buch zu lesen. „Dort oben ist’s gut sein, da können Leib und Seele gesunden und man wird wieder des Lebens froh“.
Heidis Welt
Im Unterschied zu zeitgleichen Erscheinungen von Gemälden oder anderen Schriften gibt es in Heidis Welt keine Feen, Dämonen oder Drachen. Es geht eher mit den Theorien Pestalozzis, der eine dem kindlichen Rhythmus angepasste Erziehung forderte, nach der das Kind seine eigenen Erfahrungen mit der Natur als einziger Lehrmeister machen solle.
Im fünften Kapitel widmet sich Wissmer dem zentralen Anliegen Spyris. Er fasst zusammen: Schule und Bildung als eine der Säulen, auf denen der Roman ruht, die anderen beiden sind Religion und die Verherrlichung der Natur.
Wird im Roman Heidi von der blinden Großmutter von Peter gebeten, das Lob- und Dankeslied vorzulesen, um den Gott im Himmel Dank zu sagen, so finde man hier noch pietistisch, sich vertrauensvoll an Gott zu wenden. In der neueren Fassung von Peter Stamm (2008) wird die religiöse Komponente, die beim Publikum nicht mehr so gut ankomme, dann gänzlich ausgeklammert, berichtet Wissmer.
Wichtig zu erwähnen war Wissmer auch Charles Tritten (1908-1948), der Fortsetzungen zu Heidis Geschichte schrieb und dabei als einer der geschicktesten Erzähler galt, er ging über die zwei Bände hinaus, wobei er Ausschnitte aus Spyris Werk, ihre Geschichten und Erzählungen in die von ihm geschriebenen Heidi-Bücher integrierte. Das ergab dann: Heidi als 12jährige, Heidi als Lehrerin, und Heidi vemählt mit Peter und ihre Kinder.
„Heidi“ wird nach Tritten an andere Autoren weitergereicht, schreibt Wissmer, so dass auch ein Buch „Heidi grandmere“ erscheint. Ob mit veränderten Namen der ursprünglichen Heidi „Mitspieler“ oder weitere Spyri-Geschichten adaptiert wurden, dasselbe Phänomen taucht in unzähligen Aufzeichnungen von Titeln auf. Daraus entstand Heidi nicht nur auf den Bergen, sondern auch in Paris, in Gesellschaft mit Delfinen, dem Weihnachtsmann.
Ob in USA oder Japan – meist geht es darum, positives Denken als „neue Religion“ zu präsentieren „mit allem fertig zu werden, den Mut haben, Menschen zu helfen und sie zu besseren Wesen zu machen, so wie es Heidi in ihrem Umfeld vorgelebt habe resümiert Wissmer.
Vorgehensweise
Wissmers vorgehensweise ist in erster Linie wissenschaftlich, andererseits versteht er manches so zu formulieren, als säße man mit ihm an einen Tisch, an dem er erzählt, was bei all den Vergleichen, Zitaten und Auslegungen zu Heidi und deren Mitspieler gut tut. Seine Untersuchungen begleiten zahlreiche Literaten, Philosophen, Psychiater und Bibelstellen.
In hinteren Teil seines Buches geht er noch auf die Übersetzer ein, z.B. der Übersetzung von Camille Vidart, die sich in ihren folgenden Jahren für die Anliegen des Feminismus einsetzte und schon 1896 den ersten Schweizer Kongress für Fraueninteressen organisierte.
In der ursprünglichen Heidi-Ausgabe ereignen sich Tief- und Höhepunkte. Doch beim Höhepunkt des Romans, als Klara gehen lernt, finde man keine eindeutige Antwort auf die Ursache des wunderbaren Verlaufs. War es die Bergluft, das Beten Heidis, waren es die Vorübungen des Großvaters? Oder nicht doch eigentlich auch Peter, der mit dem Rollstuhl Klaras den Gegenstand aus dem Weg schaffte, der Klara daran gehindert hatte, über sich selbst hinaus zu wachsen?
Letztendlich kehrt sich vieles zum Guten. Die Besorgnis des Großvaters, was mit Heidi geschieht, wenn er nicht mehr ist, löst sich durch die Adoption durch Dr Classen. Großmutter Sesemann rügt Peter, gibt ihm aber auch eine existentielle Unterstützung. Dass der Geisen-Peter lesen lernt, beschert der blinden Großmutter das Vorlesen. Die zweifellos schweren Zeiten konnten auch gute Fortsetzungen in sich bergen, erfährt man.
Heidis Verfilmungen reichen bis 1937 zurück, Wissmer geht auf Einzelne ein, auch auf die Abwandlungen und entsprechend verwirrenden Auslegungen, dabei bleibt die Frage offen, ob die wirkliche Autorin des Buches im Gedächtnis der Leser und Zuschauer weltweit bekannt ist.
Mythos Heidi
Der Schauplatz bei Maienfeld, Bad Ragaz und den umliegenden Bergen, ist längst zu einem Pilgerschauplatz geworden mit Heididorf und Heidihaus, berichtet Wissmer anschaulich, einschließlich des Heidishops, wo schweizerische Erzeugnisse als „das Original“ angeboten werden.
Wissmers Buch macht Lust auf eine Reise zu diesen Schauplätze, sie könnte ein Gang sein zu einer tieferen Auseineandersetzung über den Sinn des eigenen Lebens, mindestens aber zu einer Erinnerung an die eigenen Kindheitserfahrung mit dem „Mythos Heidi“.
END/nna/wil
Jean-Michel Wissmer: Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt. Schwabe Verlag Basel. ISBN 978-3-7965-3247-4.
Bericht-Nr.: 160926-01DE Datum: 26. September 2016
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