Nachrichtenbeitrag

„Als Pfarrer erlebe ich, wie heilig der Vorgang des Todes ist“

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Von Ronald Richter

Wie kann der einzelne zu einer bewussten Entscheidung hinsichtlich einer Organspende kommen? Diese Frage steht in Deutschland auf der Tagesordnung, seit das neue Gesetz zur Organtransplantation verabschiedet worden ist, nach dem jetzt jeder Bürger regelmäßig zu seiner Spendebereitschaft befragt wird. In einem ersten Artikel berichtete NNA dazu über den Vortrag eines Arztes, Privatdozent Dr. Harald Matthes, dem Leiter des Krankenhauses Havelhöhe in Berlin. Nun kommt im Interview Martin Wittchow zur Wort, Pfarrer der Christengemeinschaft in Leipzig. Vor dem Priesterseminar hat er Philosophie, Geschichte und Musikwissenschaft studiert. Wittchow ist Jahrgang 1959 und seit 1990 geweihter Priester, er war auch im Ausland tätig, u.a. in Neuseeland. Ronald Richter hat ihn für NNA befragt.

Berlin/Leipzig (NNA) – NNA: Herr Wittchow, welche Erfahrungen haben Sie mit dem Thema Organspende bisher gemacht?

Wittchow: Zunächst einmal kenne ich Menschen, die viele Jahre gelitten haben an Niereninsuffizienz. Die nach langer Dialyse eine solche Niere empfangen haben. Und wenn man sieht, wie deren Lebensqualität hinterher sich ungeheuer steigert, dann ist das etwas sehr Beeindruckendes, was ein gewisses Gewicht bei der Beurteilung dieser Dinge erhält.

NNA: Das ist die eine Seite der Empfänger – und wie ist es mit der Spenderseite?

Wittchow: Die andere Seite habe ich u.a. kennengelernt, als ein 16jähriges Mädchen aus meiner Gemeinde einen Motorradunfall hatte. Ich wurde von der Mutter dazugerufen. Die Ärzte hatten sie auf die Möglichkeit der Organspende angesprochen. Das Mädchen war wiederbelebt worden und lag hirntot im Krankenhaus.

NNA: Da sind wir schon mitten im Thema: Wie sehen Sie denn prinzipiell die Frage des Hirntods als Definition für das Lebensende?

Wittchow: Das ist eine sehr wichtige Frage, die sensibel angepackt werden muss. Zunächst einmal ist das Hirntodkriterium ja erst in Zusammenhang mit der Transplantationsmöglichkeit eingeführt worden. Früher war jemand gestorben, wenn sein Herz aufgehört hat zu schlagen, der Leib erkaltet war. Aber da sind dann schon Prozesse eingetreten, die eine Organtransplantation unmöglich machen. Die Organe sind verdorben. Dann hat man festgestellt, dass Hirntote auf der einen Seite über noch gesunde Organe verfügen, auf der anderen Seite aber unwiderruflich Sterbende sind. Wenn die Menschen auf jeden Fall nicht wieder zu Bewusstsein kommen können, dann sei es, so meinte man, doch kein großer Schritt zu erklären: Die sind eigentlich schon tot. Denn wir wollen ja nicht Lebende zum Mittel für den Zweck eines anderen machen. So hat man dieses Hirntodkriterium eingeführt und gesagt: Wenn ein Mensch keine Funktion im Gehirn mehr hat, so ist das irreversibel, er gilt als tot. Dann dürfen Organe entnommen werden.

NNA: Das klingt erstmal einleuchtend, aber so einfach ist es ja nicht, wie es scheint. Es gibt viele Berichte, gerade von denjenigen, die die Organentnahmen durchführen müssen, die ein Unbehagen zum Ausdruck bringen.

Wittchow: Die Erscheinungen, die bei der Organentnahme auftreten, sind für viele Operationsschwestern und zum Teil auch für Ärzte sehr beunruhigend. Der sogenannte Tote wirkt zunächst wie ein normaler Schwerkranker: warm, durchblutet. Er wird zum Teil narkotisiert, weil das Herannahen der Operation sonst mit Schwitzen, mit Zuckungen, manchmal sogar mit heftigen Bewegungen verbunden ist. Dann wird diese eiskalte Flüssigkeit in die angelegte Operationsöffnung gegossen, das Herz und die anderen Organe werden heraus getrennt. Der Mensch ist nicht mehr da. Schließlich bleibt ein Leichnam zurück.

NNA: Was genau beunruhigt die Mitarbeiter daran?

Wittwoch: Der Unterschied zwischen dem, der in den Operationssaal hereinkommt und dem, der hinterher da ist. Er lässt nämlich nur den Schluss zu, dass jemand Lebendes gekommen ist und am Ende tot ist, wirklich tot. Das ist natürlich eine schwerwiegende Erfahrung. Viele Operationsschwestern sind sehr verstört und empfinden es als Zumutung, an so etwas beteiligt zu sein.

NNA: Heißt das nun, dass man aus Ihrer Sicht vor diesem Hintergrund abraten sollte von einer Organspende?

Wittchow: Nun, für einen hartgesottenen Materialisten, der meint, dass der Mensch bei seiner Zeugung aus einem Nichts zusammen gebacken wird, irgendwann zu einem Bewusstsein kommt, das dann einmal wieder erlischt und wo alles aus ist mit dem Verfall des Leibes – derjenige kann das eigentlich befürworten für sich und für andere. Denn er kann sich sagen: Wenn ich nichts mehr im Bewusstsein habe, dann kann mit meinen Überresten geschehen, was da will. In so ein materialistisches Weltbild passt die Organtransplantation. Da kann man auch die Ärzte verstehen, die meinen: Dieser Mensch stirbt, der hat nichts Lebenswertes mehr zu erwarten, andere junge Menschen aber können leben. Das sieht zwar unappetitlich aus, was da bei der Organexplantation passiert, aber letztlich ist das nichts anderes als bei einem normalen Tod. Es ist eine Frage der Weltanschauung.

NNA: Und was ist Ihre Auffassung genau?

Wittchow: Nun, Sie wissen ja, ich bin Pfarrer. Meine Anschauung ist es, dass der Mensch aus rein geistigen Zuständen und Seinsbereichen herunter steigt und gewissermaßen die Stofflichkeit der Erde, seinen Leib nur anzieht, sich damit umhüllt. Dass er vor seiner Empfängnis als Geistwesen schon da war und nach seinem Tod als Geistwesen in rein geistigen Welten weiter lebt, bewusst ist, Entwicklungen durchmacht. Und damit stellen sich ganz neue Fragen.

NNA: Können Sie das genauer erläutern?

Wittchow: Zunächst gibt es in den Religionen, besonders im Christentum den Gedanken der Nächstenliebe, und hier ein ganz großes Bild, das fast wie das Urbild einer Organspende aussieht: nämlich dass der Mensch gewordene Gott, der Christus Jesus, sein Zusammensein mit der Menschheit im Abendmahl zum Ausdruck bringt, indem er dort sagt: ich gebe euch Brot und Wein und ihr sollt damit meinen Leib und mein Blut empfangen, und er geht dafür in den Schmerzenstod. Also, der Gottmensch zieht seine Seelenkräfte bewusst aus seinem sterbenden Leib heraus und opfert sie in die Pflanzenwelt der Erde hinein, die den Menschen als Nahrung und Trank dient. Er gibt seinen neuen, verwandelten „Leib“ den Menschen als Heilmittel und sagt: Tut solches desgleichen ... - Nicht so an seinem eigenen Leibesdasein zu hängen, sondern die Not anderer zu sehen und nach Möglichkeiten sich helfend hinzugeben, das ist also ein sehr christlicher Gedanke. Und das ist ja wahrscheinlich das, was bei denen angesprochen wird, die heute einen Organspendeausweis ausfüllen: Ich will was Gutes tun, ich will helfen.

NNA: Müsste man da nicht auch unterscheiden zwischen Organtransplantation von einem Verstorbenen und der Lebendspende?

Wittchow: Dieser Aspekt des Helfens kommt natürlich besonders positiv in einer Lebendspende zum Ausdruck. Die darf nur zwischen Menschen erfolgen, die sich kennen. Da gibt es keine Anonymität, es ist ein bewusster Opferakt: Ich sehe einen, der leidet und bin bereit, selbst zu leiden, eventuell zu sterben. Das Erstaunliche dabei ist nun, dass die Annahme eines solchen in Liebe gespendeten Organs sehr viel besser gelingt, sogar inzwischen bei Menschen, die verschiedene Blutwerte haben. Die Immunsuppression, die zeitlebens erfolgen muss, da andernfalls das fremde Organ vom eigenen Leib abgestoßen wird, ist auch viel gemäßigter nötig. Anscheinend, weil solch ein gespendetes Organ in sich wie eine Information trägt, dass es einer wirklichen Liebestat entstammt. So ist die Lebendspende etwas ethisch sehr Vertretbares.

NNA: Wenn man jetzt die Abendmahlworte so auslegt, wie Sie es gerade getan haben, müsste man dann aber nicht doch folgern: als Christ sollte man Organe spenden?

Wittchow: Ich könnte mir vorstellen, dass einzelne wenige sehr starke Menschen aus einem christlichen Impuls heraus auch die Organspende nach einem Hirntod für sich bejahen wollen. Christus sagt: Keiner kann eine größere Liebe haben, als dass er sein Leben gebe für seine Freunde. Wenn einer genau weiß, was im Falle seines Hirntodes und der Organentnahme mit ihm geschieht, wie er das wahrscheinlich aus einer anderen Sphäre miterleben muss, und dann in vollem Bewusstsein und in Liebe sagt: Das nehme ich in Kauf, um irgendeinem anonymen Kranken das Leben verlängern zu können, dann wäre das beachtlich. Das ginge aufgrund einer strengen persönlichen Zustimmungslösung.

NNA: Das wäre dann aber ein sehr, sehr hohes Ideal, dem man da folgt....

Wittchow: Ich habe das für mich auch anders entschieden. In meiner Arbeit als Pfarrer erlebe ich, wie heilig die Vorgänge des Todes sind. Sie sollen den Sterbenden darauf vorbereiten, in die Reiche des Geistes einzutreten und ihm helfen ganz neue Erfahrungen zu machen - darüber, was überhaupt das Erdenleben in seiner Würde ist. Der Todesaugenblick wird durch die blutige Organentnahme unzulässig gestört und manipuliert. Da ist so wenig Bewusstsein drin. Da ist alles so durcheinander. Vielleicht wandeln sich ja die Dinge eines Tages, so dass sie in Zukunft unblutiger geschehen, dass Spender und Empfänger auch in Berührung kommen können, die Anonymität verschwindet. Ich finde, es ist nicht reif.

NNA: Wenn wir jetzt mal zu der Seite der Empfänger zurückkehren, welche Gesichtspunkte können Sie hier noch hinzufügen?

Wittchow: Auch auf der Seite der Empfänger ist vieles ungeklärt. Oft werden die transplantierten Organe ja schon nach zwei, drei Jahren oder schneller abgestoßen. Dann müssen neue kommen. Es gibt heute ein sehr starkes Verhaftetsein am Irdischen und die Hoffnung, ewig das Leben zu verlängern, oft ohne tragfähige Ziele zu haben. Was macht man dann mit dem geschenkten Leben? Als Pfarrer ist es meine Aufgabe, den Tod nicht als großen Feind, als Schreckgespenst, sondern als Freund des Menschen zu vermitteln, der weitere Entwicklungen und Verjüngungen der Seele anregt. Soll man dauernd und um jeden Preis auf Rettung des Leibes setzen, zumal wenn man sich hinterher sagen muss: Ich lebe, aber nur, weil ein blutiges Geschehen an einem jung Verstorbenen vorangegangen ist?

NNA: Sie haben zu Anfang das verunglückte Mädchen aus Ihrer Gemeinde erwähnt. Wie wurde in diesem Fall dann entschieden?

Wittchow: Als wir uns dem Mädchen näherten, fühlten wir deutlich, dass unsere Anwesenheit wahrgenommen wurde, durch leise Regungen der Hand und andere Lebenszeichen. Sehr bald tauchten Ärzte auf, die uns eröffneten, dass der Tod unausweichlich sei, dass er aber noch einen Sinn haben könne. Die Mutter äußerte, dass sie der Organentnahme nicht zustimmen möchte, da sie in Ruhe den Sterbevorgang ihrer Tochter begleiten wolle. Sie gingen etwas kopfschüttelnd. Ich holte das Benötigte für das Sterbesakrament herbei. Da kamen die Ärzte noch einmal zur Mutter, weil sie dachten: Jetzt ist der Pfarrer weg. Sie blieb aber standhaft.

NNA: Das heißt, als Angehöriger muss man da schon auch wissen, wie man entscheiden will...

Wittchow: Sicherlich, ich sah, wie die Ärzte sich vor dem Bett entgeistert anschauten, wohl darüber, wie man so „unmenschlich“ sein konnte. Kurz darauf wurde alles, was das Leben erhielt, abgebrochen. Es war sehr berührend, wie die Jugendliche weiter lebte, das Herz weiter schlug, wie die letzte Ölung vollzogen, gebetet und gesungen wurde und man den Eindruck hatte, dass sie das alles intensiv aufnimmt. So, dass nach zwei Stunden die Herzschläge flacher wurden und der Tod in Ruhe eintrat. Die so jäh durch den Unfall aus dem Leben gerissene Seele konnte noch in Ruhe ausatmen und im Beisein ihrer Lieben den Gang in die neuen Welten antreten. Es war bei allem Abschiedsschmerz ein großer, feierlicher Hingang, voller Trost und Geisteszuversicht.

NNA: Mit diesem Beispiel wird der Unterschied deutlich, dem man bei der Entscheidung vor Augen haben sollte. Herr Pfarrer Wittchow, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

END/nna/ung/ror

Bericht-Nr.: 130224-01DE Datum: 24. Februar 2013

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Organspende: Eine bewusste Entscheidung