Nachrichtenbeitrag

875 Jahre – und die Zukunft mittendrin

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Von NNA-Korrespondent Walter Siegfried Hahn

KEHNA (NNA) – Ein winziges Dorf mitten in Deutschland feierte am letzten Mai-Wochenende 875 Jahre seiner ersten Erwähnung. Mehr als die Hälfte der knapp 90 Bewohner des bei Marburg gelegenen, denkmalgeschützten Dorfes gehören zu der anthroposophischen “Gemeinschaft in Kehna”, darunter sind viele mit geistigen oder multiplen Behinderungen.

Im Zentrum der Gemeinschaft steht die Förderung der einzelnen Persönlichkeit im Sinne seiner biographischen Impulse im Rahmen eines freien Geisteslebens, einer brüderlichen Wirtschaft und auf Basis von Gleichberechtigung. Diese Zukunftsimpulse zeigten sich vielfältig auf dem Fest und sie waren es offensichtlich auch, die so viele Besucher anzogen, dass die gesperrten Zufahrtsstrassen auf bis zu ein Kilometer Länge zugeparkt wurden. Auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln brach bald nach Mittag zusammen.

Blühende Zukunft

Doch zunächst zur jüngsten Vergangenheit. Anfang der 1990er Jahre war Kehna ein vom Aussterben bedrohter Ort mit mehreren verfallenden Höfen. Die in der Nähe gelegene Gemeinschaft Friedelhausen aber platzte aus den Nähten. Deren Mitarbeiter Michael Gehrke und Gabriele Scholtes sahen aber weniger die verfallenen Häuser als eine blühende Zukunft. Sie begründeten die Gemeinschaft und begannen mit den ersten Mitarbeitern und Betreuten mit der Renovierung des ersten Hofes.

Nun, nach 23 Jahren Bauzeit und 16 von 17 Dächern selbst neu eingedeckt, stellt sich Kehna als ein Schmuckstück von Fachwerkhöfen dar, mit einem reichen kulturellen Leben und Arbeitsplätzen in mehreren Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.

Auf drei grossen Höfen sind neben Wohn- und Lebensräumen die Werkstätten der Hauswirtschaft, Schreinerei, Weberei und Garten- und Landschaftspflege untergebracht. Im Jahr 2000 kam als früher Vorläufer der heutigen Mikrorösterei-Bewegung eine Kaffeerösterei dazu, die sich auf Bio- und Demeter-Spezialitäten konzentriert. Jüngste Projekte sind der so genannte Orang-Utan-Kaffee aus Indonesien sowie der Palawan Musang, Schleichkatzenkaffee einer anthroposophischen Initiative auf den Philippinen. Neben dem Verkauf im eigenen Café vor Ort beliefert die Rösterei Kunden in ganz Europa.

Festlichkeiten

Für das Jubiläumswochenende erarbeiteten alle Dorfbewohner zusammen ein in vielem Sinne integratives Programm. Es begann am Samstag Abend mit einem Konzert der über Deutschland hinaus bekannten Band von Menschen mit Behinderungen “Station 17”, bei dem es keiner grossen Aufforderung zum Tanz bedurfte. Am Sonntag kamen die ersten Gäste schon vor 10 Uhr, dem offiziellen Beginn mit einem Gottesdienst im Kirchlein.

Die Betriebe der Gemeinschaft (sie ist die einzige Arbeitgeberin vor Ort) stellten ihre Produkte aus, den Kaffee gab es natürlich im Ausschank und dazu eine kleine, aber feine Palette von zumeist biologisch-dynamischen oder biologischen Produkten und Gerichten.

Besitzer von Traktoren und Landmaschinen aus den 1940er bis Anfang 1960er Jahre stellten stolz ihre Oldtimer aus. Die Trachtengruppe der Hessischen Volkskunst-Gilde lief durchs Dorf oder zeigte in kleinen Szenen Stationen des traditionellen Lebens auf dem Lande wie Taufe, Konfirmation und Hochzeit.

Gelungenes Ereignis

Noch einiges mehr gab es zu erleben und zu erkunden, nicht zu viel und nicht zu wenig. Abgesehen von den teils sehr weiten Wegen, um überhaupt ins Dorf vorzudringen, war es ein sehr gelungenes Fest. Nicht nur unterschiedlichste Menschen pflegten selbstverständlichen, fröhlichen Umgang miteinander. Auch Ideen, die man vor 30 Jahren vielleicht noch belächelte oder vor denen man Angst hatte, scheinen mitten in Deutschland angekommen, akzeptiert und gewürdigt zu werden. Basis dafür scheint mir der offene und freundliche Umgang miteinander zu sein und die Lust voneinander zu lernen.

END/nna/wsh

Bericht-Nr.: 150727-01DE Datum: 27. Juli 2015

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Mitglieder der Trachtengruppe der Hessischen Volkskunst-Gilde auf ihrem Weg durch das Dorf
Eine Oldtimer-Landmaschine zur Ansicht
Die moderne Kaffeerösterei mit Bio- und Demeter-Spezialitäten wie Orang-Utan-Kaffee aus Indonesien oder dem Palawan Musang einer anthroposophischen Initiative auf den Philippinen<br>Fotos: Walter Siegfried Hahn